Haben sie sich schon einmal gefragt warum Zahnbürsten, Tassen, Schuhe, Tierkadaver, Erde, Sande und Hölzer – Dinge, die in einem merkwürdigen Subjekt-Objektstatus verharren, ab dem 20. Jahrhundert Museen und Ausstellungshallen bevölkern? Was wollen diese Dinge von uns? Was wollen wir von ihnen? Und unter welchen historischen Bedingungen feiern Dinge des Alltags und Naturmaterialien ihren Aufstieg als sogenannte „Gedächtnis-Kunst“? In der Kategorie HARD WORK – Forschen/Lesen befasse ich mich mit den unterschiedlichen Aspekten von Dingsammlungen und stelle kunsttheoretische Begriffe vor, die ihren Weg noch nicht ganz in eine breite Öffentlichkeit gefunden haben.

Nikolaus Langs (*1941) Spurensicherung ist dabei Ausgangspunkt einer modernen Geschichte der Dinge, die widersprüchlicher nicht sein könnte. Und selbstverständlich wollen diese Dinge nichts von uns, denn spätestens seit Theodor W. Adorno befasst sich der ästhetische Diskurs mit der Historizität von Materialien. Doch gerade die relativ neue Disziplin der Materialikonologie macht deutlich, dass der geschichtliche Diskurs immer wieder aufs Neue beginnt. Denn wer Spuren des Vergangenen sichert, legt neue Spuren, öffnet Denkräume und produziert Wissen. So sind die Dinge der Kunst nicht nur inverses Archiv der Gesellschaft oder eine Reminiszenz an das Vergängliche, sondern sie handeln gleichsam von Zuständen, deren Ausgang vereinbart und deren Zukunft bereits vorgesehen ist, so zumind meine These.

Erinnerungsarbeit und Gedächtnis-Kunst

Was bedeuten nun Begriffe, wie Erinnerungsarbeit, Gedächtnis-Kunst, Individuelle Mythologien und künstlerische Spurensicherung? In welchem Kontext sind diese Begriffe entstanden?

Die explosionsartige Entwicklung im Bereich der elektronischen Speichermedien und Zirkulationstechniken entfachte in den 1990er Jahren vielschichtige Diskussionen um den Differenzierungsprozess von kritischer Geschichtsschreibung und Gedächtnis. Vom Vergessen mit apokalyptischen Zügen war die Rede, von der Ankunft eines neuen Zeitalters „das den Verlust einer verbindlichen Weltanschauung, den Zusammenbruch staatspolitischer Polaritäten, die massive Verbreitung technischer Kommunikationsmittel und die zunehmende Medialisierung der Alltagswelt zu seinen Merkmalen zählt.“ (Hemken, Kai-Uwe, Hrsg: Gedächtnisbilder – Vergessen und Erinnern in der Gegenwartskunst Leipzig 1996. S. 9)

Die neuen Speichermedien und Zirkulationstechniken gestatten ein ungeordnetes und chaotisches Einströmen des Vergangenen in die gegenwärtige Lebenswelt. Per Knopfdruck
bzw. mouse-click kann sich heute scheinbar jede und jeder die eigene Kultur und fremde Kulturen vergangener Zeiten aneignen, schreibt die Kunst- und Kulturwissenschaftlerin Nicole Fritz 2002 in ihrer Dissertation „Joseph Beuys und der Aberglaube“. Der gemeinsame Erfahrungskern von Erinnerungsgemeinschaften, der herkömmlich durch religiöse, nationale und regionale Traditionen weitergegeben wurde, generiert sich in den hochkomplexen, globalisierten Archiven nach spektakulären Kriterien. Durch den „inflationären“ und unkontrollierten Umgang mit Vergangenheit mutiert die identitätsstiftende Kraft von Erinnerungsgemeinschaften zum Andenken als Unterhaltung. […] An die Stelle des bewohnten, belebten Gedächtnisses in den Köpfen, Herzen und Körpern der Menschen tritt das mediengestützte Gedächtnis und die analytische Geschichtsschreibung.“

Der Kunsthistoriker Kai-Uwe Hemken beschreibt die neue Situation in „Paradoxe Phänome. Gedächtniskunst im Zeitalter der Neuen Medien“ wie folgt: „Am Ende dieser fatalen Kette – angefangen von der Bilderflut, über den Verlust verbindlicher Zeichensysteme und Repräsentationsformen der Realität, bis zur Forcierung der Reproduktionsmaschinerie – lässt sich eine Dekonstruktion der kulturellen Identität beobachten. Es gibt keine Verbindlichkeiten und keine allgemeingültigen Handlungs- und Zeichensysteme mehr, die einen kulturellen Konsens herbeiführen könnten.“

Fasst man dieses Stimmungsbild der frühen 2000er Jahre zusammen, so geht es um eine Krise der kulturellen Identität und damit um die identitätsstiftende Funktion von Erinnerung. Die Entkopplung des Einzelnen aus seinen historischen und traditionellen Zusammenhängen und die folgenreichen Auswirkungen auf die Verfasstheit sozialer Gefüge und kultureller Wissensproduktion- und vermittlung werden in den unterschiedlichen Disziplinen durch zahlreiche Diskurse über Erinnerungsarbeit aufgerollt.

Für den Historiker Pierre Nora ist die steigende Bedeutung der Individualpsychologie in diesem Diskurs ein Indiz für die zunehmende Relevanz individueller Erinnerungsarbeit. Ein weiteres Indiz ist die intensive Auseinandersetzung mit der Geschichte und dem Alltagsleben bestehender und vergangener Kulturen im Feld der Kunst. Seit den 1970er Jahren regen KünstlerInnen mit ihren erinnerungs- und gedächtnisorientierten Konzepten zu neuen Formen der Fortschreibung von Geschichte an. „Wie es war wissen wir ja alle nicht; denn es gibt eigentlich keine Geschichtsschreibung, nur Verarbeitung von Geschichte“, erklärt der deutsche Maler und Bildhauer Anselm Kiefer im Kontext seiner Waterloo-Arbeiten von 1982. Das Gedächtnis und mit ihm die Geschichte sind nichts Abgeschlossenes. „Das was war“, so der Historiker Johann Gustav Droysen,„interessiert uns nicht darum, weil es war, sondern weil es in gewisser Weise noch wirkt.“

Das künstlerische Genre der Spurensicherung, oder Begriffe wie Individuelle Mythologien und die neue Gedächtnis-Kunst verdeutlichen die Rolle des Kunstsystems im Diskurs um die sogenannte Krise des kulturellen Gedächtnisses. Sie stehen für eine zunehmende Relevanz individueller Erinnerungsarbeit im Zeichen der Dekonstruktion kultureller Identität. Doch gerade die bildende Kunst, mit ihrer Sammelleidenschaft ohne konkretem Sammlungsgegenstand, ihren wahrgemogelten Archiven, ihren Büchern, Landkarten, fiktiven Ortsbeschreibungen und wild wuchernden Materialsammlungen, zeigt sich im doppeldeutigen Kleid. Leichtfüßig weist sie in die Vergangenheit, sie bestätigt uns den langen Atem der Geschichte; vielleicht sagt sie auch: wie es war, soll es nie wieder sein!

Gleichzeitig erhebt sie den Anspruch die „Erinnerungsarbeit“ für die Zukunft offen zu halten. Denn wer Spuren des Vergangenen sichert und interpretiert, legt neue Spuren, öffnet Denkräume und produziert Wissen. Die künstlerische Erinnerungsarbeit, die sogenannte neue Gedächtnis-Kunst (Aleida Assmann) beschreibt keine abgeschlossenen Zustände und Situationen. Sie diskutiert zwar die Krise des kulturellen Gedächtnisses, genau genommen geht es dabei aber nicht ausschließlich um eine Vergangenheit, die von den Kulturen nicht mehr erinnert werden kann. Die neue Gedächtnis-Kunst thematisiert Verfall, Verlust, Destruktion und Tod. Die Geschichte fungiert dabei in vielen Fällen aber nur als Vehikel einer Idee oder Ahnung in Hinblick auf zukünftige Arrangements.

In einer Zeit, in der klar geworden ist, dass auch digitale Medien Leerstellen eröffnen, die als Erinnerungsanlässe fungieren, ist die Krise des kulturellen Gedächtnisses, so meine Annahme, im Grunde einem Stillstand geschuldet – es handelt sich um eine Art abkürzendes Verallgemeinern, wie es die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann ausdrückt, welches aus meiner Sicht die Unfassbarkeit und Unsagbarkeit der anhaltenden Destruktion schönredet. Anders Ausgedrückt: Dem kulturellen Gedächtnis eine Krise zu verordnen, steht synonym für ein Herumirren zwischen den Zeiten, welches eine Konsequenz der jüngsten Geschichte selbst ist. Unzählige Werke der spurensichernden Generation der 1970 und 80er Jahre verweisen nicht auf konkrete historische Ereignisse. Das Vergangene und die Erinnerung daran dienen zwar als Arbeitshypothese, doch die Werke – zumindest die von Nikolaus Lang – sind nicht nur Reminiszenz an das Vergängliche, sondern beschreiben vielmehr Zustände deren Zukunft bereits vorgesehen sind. Diese Kunst erinnert die Kultur nicht nur an einen vergangenen Verlust, sie erinnert die Kultur, dass Destruktion, Gewalt und Tod hinter der Fassade des ökonomischen Fortschritts für morgen bereits arrangiert wurden. Oder wie es Walter Blumberger im Kontext seiner Ausstellung „In Between – Spurensuche und Erinnerungsräume“, ooe-fotogalerie | Linz 2012 formulierte: „Wir befinden uns immer im Krieg!“

 

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